“Wie viele haben dein Leben vergeudet, ohne dass du dir bewusst warst, wie viel du verlierst. Wie viel hast du auf sinnlosen Kummer, haltlose Freude, gieriges Verlangen oder gesellschaftliche Vergnügungen verschwendet – wie wenig von dir selbst ist dabei übrig geblieben. Du wirst erkennen, dass du vor deiner Zeit stirbst.” - Seneca, Über die Kürze des Lebens, 3.3b

Der Gedanke an unsere eigene Vergänglichkeit mag auf den ersten Blick beängstigend und unangenehm erscheinen, aber wenn wir ihn aus einer anderen Perspektive betrachten und als Chance begreifen, kann er tatsächlich unser Leben in vielerlei Hinsicht positiv beeinflussen.

In der rastlosen Welt, in der wir leben, eilen wir von einem Projekt zum nächsten, als wären wir unersetzlich und von zentraler Bedeutung. Doch wie oft halten wir inne und hinterfragen, was wirklich wichtig ist? Kann es wirklich sein, dass Geschäftszahlen, Termine, das neuste große Ding wirklich unser Leben bestimmen und uns letztlich unsterblich machen?

Indem wir uns bewusst mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen, öffnen wir uns für die Möglichkeit, über unsere Werte und Prioritäten nachzudenken und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dieses Bewusstsein kann uns dabei helfen, persönliches Wachstum zu erzielen, tiefer gehende Beziehungen zu pflegen und mehr Dankbarkeit und Achtsamkeit in unseren Alltag zu integrieren.

Was ist wirklich wichtig?

Lasst uns in ein Gedankenspiel eintauchen. Betrachten wir die Vergangenheit und schauen, was von unseren Altvorderen alles so dauerhaft in Erinnerung geblieben ist: Kannst du dich beispielsweise an die Könige und Königinnen erinnern, die vor 200 Jahren regierten? Oder die einflussreichen Unternehmensführer, die vor 50 Jahren die Geschäftswelt prägten? Wer waren die visionären Pioniere, die vor 20 Jahren in ihren Garagen bahnbrechende Erfindungen machten? Und was ist mit den Menschen, die uns vor nur fünf Jahren begegneten und deren Erfolg uns damals so beeindruckte?

Es ist erstaunlich, wie schnell die Erinnerung an die Menschen und ihre Taten verblassen, die einst die Welt prägten oder unser Leben beeinflussten. Schon der römische Kaiser Marcus Aurelius erkannte vor rund 2000 Jahren die Vergänglichkeit allen Ruhms:

„Bald wirst du alles vergessen haben, und bald wirst auch du bei allen in Vergessenheit sein.“ - Marcus Aurelius VII 21

Unsere wahrgenommene Wichtigkeit, unsere Vorhaben und Projekte, unsere Kleinkriege, alles wird bald (rasant) vergessen sein. Selbst die Menschen, die wirklich großen Taten vollbringen, sind in weniger als 100 Jahren nichts mehr als Fußnoten in der Geschichte. Was ist also der genaue Grund für unsere Hektik und Angst im Alltag?

Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das sich seiner Existenz und dem unvermeidlichen Ende vollständig bewusst ist. Wir möchten uns bedeutend fühlen und gegen unsere natürliche Kleinheit ankämpfen. Dennoch können wir nichts, überhaupt nichts dagegen tun irgendwann zu sterben. Und das frustriert uns, es frustriert uns so sehr, dass wir das tun, was wir halt tun, wenn wir vor etwas Unbekannten Angst verspüren: Wir vermeiden es. Wir haben den Tod aus unserem Leben verbannt, selbst der Tod der Tiere, die wir essen, ist abstrakt für uns geworden.

Diese Vermeidungsstrategie führt zu zahlreichen Fehleinschätzungen des Lebens und des Todes, die nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar schädlich sein können. Andernfalls ließe sich kaum erklären, warum manche Menschen sich buchstäblich zu Tode arbeiten. Wir benötigen eine andere Sichtweise, um mit unserer Vergänglichkeit umzugehen.

Analyse

Schauen wir auf das Leben anderer Menschen und betrachten ihren Tod. Was wünschen sich die meisten Menschen, bevor sie sterben?

  • Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, einfach ich selbst zu sein.
  • Ich wünschte, ich hätte nicht so viel Zeit damit verbracht, mir Sorgen über Dinge zu machen, die nie passiert sind.
  • Ich wünschte, ich wäre mehr Risiken eingegangen.
  • Ich wünschte, ich hätte nicht so viel Zeit damit verbracht, den falschen Dingen nachzujagen.
  • Ich wünschte, ich hätte mich weniger darum gekümmert, was andere Leute denken.
  • u.v.m

Wenn man das so liest, überkommt mich zumindest ein Gefühl der Traurigkeit und Lethargie. Der Blick auf diese Liste kann einige von uns dazu bringen, zu denken:

  • Warum sollte ich mich überhaupt anstrengen?
  • Was nützt so viel Anstrengung, wenn wir am Ende einfach sterben und vergessen werden
  • Es ist besser, für die Freuden des Augenblicks zu leben.

Dies ist jedoch keine realistische Einschätzung, sondern nur eine andere Form der Ausflucht.

Bleiben wir im rationalen Raum. Arbeiten wir mit der Information. Meiner Meinung nach gibt es in der heutigen Welt vier Denkweisen, die zu den oben genannten Bedauern führen können:

Ich habe Zeit

„Memento Mori - Bedenke, du musst sterben“ - Unbekannt

Wir müssen, als allererstes, unser eigenes Ende ohne Vorbehalte akzeptieren. Es nützt nichts, davon auszugehen, dass der Tod niemals kommen wird. Paradoxerweise ist es genau diese Grundhaltung, die unser Leben, todesähnlicher werden lässt. Statt Aktionen oder Maßnahmen einzuleiten, um unser Leben in die von uns gewünschte Richtung zu lenken, tun wir nichts. Wir leben den Stillstand. Die größte Ablenkung vom Leben ist es, wenn wir Tag für Tag durch das Leben gehen, unseren Verpflichtungen nachkommen, aber nicht bei uns selbst sind.

Jemand/Etwas wird mich retten.

“No one is coming to save you” - Nathaniel Branden

Wir müssen davon ausgehen, dass niemand kommen wird, um uns zu retten. Wer darauf wartet, dass ein anderer Mensch, ein Retter, plötzlich erscheint und unser Leben in die von uns gewünschte Richtung verändert, wartet vermutlich sehr lange. Noch schlimmer, ein anderer Mensch, mit niederen Motiven, erkennt eben diesen Wunsch von uns und manipuliert uns in die von ihm gewünschte Richtung.

Es ist unsere Aufgabe, alleine unsere Aufgabe, aus unseren Leben etwas zu machen, an dem wir Freude empfinden und auf das wir Stolz sein können. Falls wir uns schlecht fühlen, müssen wir etwas dagegen tun. Falls die Situation unerträglich für uns ist, ist es unsere Aufgabe sie zu verbessern. Kommt man mit einem Menschen nicht klar, ist es unsere Aufgabe einen Weg zu finden, um ebendies zu ermöglichen.

Es gibt so viel dringenderes.

“Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave” - Friedrich Nietzsche

Wir richten die Prioritäten in unserem Leben oft auf externes aus. Wir müssen lernen, unsere eigenen Prioritäten zu setzen. Um diese voranzutreiben, braucht es Mut, Risikobereitschaft, Durchsetzungsvermögen, Resilienz. Es kann notwendig sein, andere Menschen zu enttäuschen. Es ist ganz bestimmt notwendig, zu vielen Dingen Nein zu sagen.

Frage dich immer wieder, warum du so hart an dieser verdammten Sache arbeitest. Wenn die Antwort lautet: “Damit ich weiterkomme”, dann erinnere dich daran, dass alles nicht so wichtig ist. Es wird bald in Vergessenheit geraten.

Ich kann alles haben

„Nirgendwo ist der, der überall ist“ - Seneca

Die Angst, dass unser Verstand nicht genug tun kann, ist sehr real. Wir beschäftigen uns mit der besten Organisation von Dingen. Wir optimieren unsere E-Mail-Postfächer, um noch mehr E-Mails bearbeiten zu können und geben uns der Illusion hin, dass das zu irgendeinem Zeitpunkt ein Ende finden wird. Dieser Zeitpunkt wird nie kommen.

Wir tun dies aus den besten Absichten. Unsere Strategie ist, wenn wir erst einmal alles erledigt haben, bleibt Zeit für „unsere“ Themen. Diese Strategie würde auch aufgehen, wenn man davon ausgeht, dass die Arbeit von außen ein Ende hat. Dummerweise hat sie es nicht. Für jeden optimierten Vorgang wartet der nächste. Ich sage hier nicht keine gute Arbeit abzuliefern. In Gegenteil, aber ich bin nach Jahrzehnten der Optimierung zum Schluss gekommen, dass der Wert der Arbeit wichtiger ist als ihr Durchsatz. Und der Wert kann nur durch Kreativität, Ruhe und Träumen in ungeahnte Höhen gesteigert werden.

Eine pragmatische Sichtweise

Lass das traumhafte Verhältnis zum Leben und den Tod zerbrechen. Sieh das Vergessen als Freiheit an, die dir erlaubt das zu tun, was dir guttut. Niemand wird sich daran erinnern. Sieh dein Tod als Frist an, die dich dazu bringen soll, die richtigen Prioritäten (deine) zu setzen. Warte nicht ab und verschiebe sie nicht in die Zukunft. Spüre die Präsenz deines bevorstehenden Todes und beginne heute an deinem Leben zu arbeiten. Und wenn es nur 5 Minuten sind. Beginne einfach. Bleibt nur noch die wichtigste Frage. Womit?

Was soll ich stattdessen tun?

Uns wird ständig gesagt, dass wir uns selbst treu bleiben und unsere tiefsten Wünsche verfolgen sollen, aber was ist, wenn du nicht weißt, was Deine Ziele und Wünsche sind? Was ist, wenn du keine Ahnung hast, was Dein “Lebenszweck” ist oder sein sollte? Und offen gesagt, wäre die Antwort vermutlich für jeden Menschen verschieden.

„Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ (Pablo Picasso)

Eine Alternative zu diesem Vorgehen ist es, unsere eigene Identität hinter sich lassen und in eine andere einzutreten - eine Identität als Entdecker. Als jemand, der in unbekannte Gefilde aufbricht, ohne zu wissen, was ihn dort erwartet. Als jemand, der das Leben und sein eigenes Bewusstsein als erstaunlich und über alle Maßen bemerkenswert erachtet und seinen Platz, seine Aufgabe, seinen kleinen Teil am Ganzen entdecken oder gar selbst erschaffen will. Als jemand, der verstehen will, nicht nur das Gute, sondern auch das vermeintlich Böse. Warum bin ich so, wie ich bin? Warum ist die Menschheit so, wie sie ist? Wie kann ich nützlich sein? Was kann ich tun? Was kann ich verbessern?

Es gibt ein Universum von Gedanken, Ideen und Gefühlen in dir. Im Laufe der Zeit kann man neue Schichten von sich selbst und neue Facetten der eigenen Identität freilegen. Suche die Dinge, die dir Freude bereiten, insbesondere wenn sie nicht einfach sind. Dies sind oft Dinge, die wir um ihrer selbst willen tun, ohne auf die Effizienz zu achten.

Dieses Vorgehen hat eine physische Komponente, die aufzeigt, dass wir den für uns richtigen Weg befinden. Unser Adrenalin pumpt, füllt uns mit Energie und konzentriert den Geist, wodurch er kreativer wird. Es ist belebend zu spüren, wie sich Körper und Geist in jeder Hinsicht einem einzigen Ziel verschreiben, etwas, das wir in der heutigen Welt, in der wir so abgelenkt sind, nur selten erleben. Wir lernen schneller. Wir haben mehr Energie und können die Langeweile, die mit dem Lernen von wichtigen Dingen einhergeht, besser aushalten. Wenn man sich zu viel vornimmt, mehr als man bewältigen kann, fühlt man sich nicht nur erschöpft, sondern auch gereizt und nervös. Man verspürt einen Hauch von Angst, als ob das Glück verschwinden könnte. Nutze das alles. Fühle es in dir und baue darauf auf!

Fazit

Bedenke, es hat nie einen Anderen wie dich gegeben und es wird auch nie einen geben. Jeder Mensch ist einzigartig. Aber Einzigartigkeit alleine macht dich nicht wertvoll. Wenn du nicht tust, was dich einzigartig macht, wenn du dich nicht traust, dann beraubst du die Welt und dich selbst - der Chance, etwas Sinnvolles beizutragen. Der Tod ist die Erinnerung des Lebens daran, dass du es jetzt tun sollst. Verwende die Zeit für etwas Sinnvolles.

Bibliografie

  1. Green, Robert. The Laws of Human Nature, Profile Books, 2018
  2. Seneca. Briefe an Lucilius, Reclam, 2014
  3. Seneca. Vom glückseligen Leben / Von der Kürze des Lebens, Nikol, 2019
  4. Aurelius, Marcus. Des Kaisers Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen
  5. Popova, Maria. The Shortness of Life: Seneca on Busyness and the Art of Living Wide Rather Than Living Long
  6. Chopra, Paras. The Anti-Productivity Manifesto